Der verkannte Impfpionier
1884 erhielt Waldemar Haffkine seinen Studienabschluss der Zoologie an der Universität von Odessa – mit Auszeichnung. Als 1860 in der Ukraine geborener Sohn jüdischer Eltern blieben ihm jedoch jegliche akademische Karrieremöglichkeiten versagt. Durch seinen Professor Louis Pasteur gefördert, erhielt Haffkine schließlich Laborzugang. Und hier begannen seine ersten Experimente.
Sein besonderes Talent wurde von Louis Pasteur persönlich erkannt. Nachdem Waldemar Haffkine im Jahr 1888 am Pasteur-Institut in Paris zuerst in die Bibliothek verbannt wurde, erhielt er einen Platz im Forschungslabor seines Professors. Erst wenige Jahrzehnte zuvor hatte die Cholera-Pandemie Russland und Europa erreicht.
Haffkine experimentierte also so lange mit Cholera- und Thyphusbakterien, bis es ihm gelang laboreigene Cholerabakterien zu kultivieren.
In weiterer Folge konnte er sogar Immunpräparate gegen Cholera entwickeln. Indem Haffkine Nagetiere mit einem Serum infizierte, wurde die hohe Abwehrkraft erfolgreich nachgewiesen. Der unglaublich beeindruckte Pasteur bat 1891 die russische Regierung, die Impfung an Menschen zu testen. In den mit Cholera verseuchten Gebieten wollte er die Wirksamkeit nachweisen. Die russische Regierung lehnte jedoch ab. Die Begründung war, Haffkine sei Zoologe und kein Arzt, und könne somit keine derartige medizinische Neuentwicklung zu Stande bringen. Dieses Vorurteil verfolgte den Wissenschaftler sein Leben lang.
Die Choleraimpfung
Waldemar Haffkine gab jedoch nicht auf. Unermüdlich forschte er weiter an der Isolierung von Cholerabakterien. Schließlich gelang ihm der Durchbruch: die totale Immunisierung in Tierversuchen.
Nach diesem Erfolg verabreichte er sich selbst am 18. Juli 1892 eine sehr hohe Dosis seines neu entwickelten Impfstoffs. Die einzigen Nebenwirkungen waren Kopfschmerzen und leichtes Fieber. Haffkine konnte es kaum glauben – ihm war eine medizinische und wissenschaftliche Sensation gelungen! Ein Meilenstein in der Geschichte der Impfmedizin. Der erst 33-Jährige erhielt, auf Bitte von Pasteur, im Jahr 1894 die Möglichkeit, sein Choleraserum im heutigen Indien zu testen. In Kalkutta, der Hauptstadt der britischen Kolonie Britisch-Indien, herrschte im Frühjahr die jährliche Cholera-Saison mit tausenden Toten und einer hilflosen Administration. Keiner hatte eine Lösung, die vielen Todesfälle zu verringern. Doch Haffkine hatte den Grund sehr schnell ausgemacht. In den Wassertanks, die die Bevölkerung der Slums mit Wasser versorgten, wies er Cholerabakterien nach.
Er verbrachte Wochen in den ärmsten Vierteln Kalkuttas und impfte manche Familienangehörige und andere nicht. Bereits nach kurzer Zeit kristallisierte sich heraus, dass die Geimpften trotz des verunreinigten Wassers nicht erkrankten. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Die Behörden boykottierten jedoch die Impfung und setzten auf altbewährte Methoden wie Isolation von ganzen Straßenzügen und Desinfektion. Ohne den gewünschten Effekt. Nach wenigen Wochen bildeten sich Warteschlangen vor Haffkines Büro, da die Slumbewohner ihm und seiner Impfung vertrauten. Viele warteten bis zu 12 Stunden, um sich impfen zu lassen. Dieser Erfolg wurde von Plantagenbesitzern bemerkt, die ihn zur Impfung seiner Mitarbeiter einluden. Begeistert nahm Haffkine die Einladung an und konnte einem Großteil der Arbeiter damit das Leben retten. Wissenschaftlich gelang ihm – mit dieser Masse an Probanden – endlich der Durchbruch.
1895 musste er auf Grund einer Malariaerkrankung wieder nach Europa zurückkehren. Das Serum wurde im heutigen Indien jedoch weiter verimpft und in Bombay entstand, durch Haffkine initiiert, das erste Institut für Mikrobiologie des Landes. Seiner akademischen Karriere in Europa stand nichts mehr im Wege. Doch eine weitere Pandemie stand schon in den Startlöchern.
Die Pest
1896 erreichte die Pest ausgehend von China über den internationalen Schiffsverkehr Bombay. Mit den üblichen Methoden versuchten die britischen Behörden die Seuche in den Griff zu bekommen. Ohne Erfolg. Die Todeszahlen schnellten in die Höhe und übertrafen die der Cholera bei Weitem. Der Gouverneur von Bombay erinnerte sich an Haffkine und bat ihn um Hilfe. Wenige Tage später begann Haffkine mit seiner Forschung in Bombay. Mit seiner fanatischen „Worcaholic- Mentalität“ verbrachte er buchstäblich Tag und Nacht im Labor. Auch diesmal trauten ihm die etablierten Mediziner nicht. Haffkine sei schließlich „nur“ Zoologe. Bereits wenige Wochen nach Be- ginn der Experimente hatte er einen Erfolg bei infizierten Ratten zu verbuchen: Nach dem gleichen Prinzip, mit der er schon die Choleraimpfung entwickelte.
Nach der Verabreichung einer deutlich erhöhten Dosis an sich selbst, zeigte Haffkine am 10. Januar 1897 die geringen Nebenwirkungen auf. In einem Gefängnis wurde das Se- rum auf Bitte der Stadtregierung an die Häftlinge verimpft – mit großem Erfolg. Spätestens jetzt war jede einzelne kritische Stimme verstummt.
In einem eigens gebauten Produktionsgebäude wurde der Impfstoff produziert und anschließend Millionen Indern verabreicht. Queen Victoria erhob den Forscher 1901 in den Ritterstand, und Haffkine erhielt von der Regierung ein eigenes Forschungszentrum mit über 50 Mitarbeitern.
Der Fall
Im Dorf Milkowal in Punjabi starben im März 1902 19 Menschen nach der Impfung. Die Zeit der Kritiker Waldemar Haffkines war wieder einmal gekommen. Ihm wurde vorgeworfen, das Impfserum in zu hohen Mengen produziert zu haben, ohne die entsprechenden Sicherheitsmaßnahmen gewährleisten zu können. Er wurde als Leiter seines Instituts sang- und klanglos entlassen und kehrte anschließend verletzt nach England zurück.
Alle bisherigen Vorurteile sammelten sich in einer aggressiven Schmutzkampagne gegen ihn. Er sei kein Arzt, sondern nur Zoologe und außerdem sowieso viel zu jung und als Krönung wurde sogar seine Herkunft und Religion genutzt, um Haffkine zu diskreditieren.
Später ergaben lang angelegte Untersuchungen, dass nicht das Serum, sondern seine fehlerhafte Lagerung die Ursache für die Todesfälle war. Folglich war Haffkines Assistent für die Misere verantwortlich.
Viele angesehene Wissenschaftler riefen zu seiner Verteidigung auf, die endgültige Rettung kam von Nobelpreisträger Ronald Ross. Er warf den Kritikern eine Fälschung der Tatsachen vor. Weiters kritisierte er die Verleumdung Haffkines, obwohl sein entwickeltes Serum erfolgreich millionenfach weiter verimpft worden war.
Zwar bekam Haffkine im Jahr 1907 endlich eine Stelle als Direktor des „Calcutta Biological Laboratorys“ angeboten, aber sein Ruf verfolgte ihn weiter. Trotz weiteren Forschungserfolgs wurde ihm verboten, neue Impfstoffe an Menschen zu testen, und die Propaganda seiner Gegner kam nicht zum Stillstand. Mit nur 55 Jahren gab er sich schließlich geschlagen und zog sich nach Lausanne zurück, wo er sich dem Schreiben von wissenschaftlichen Artikeln widmete.
Rund zehn Jahre später wurde ihm zumindest ein Teil seiner verdienten Anerkennung zugestanden. Das kleine Labor in Bombay, in dem seine eigentliche Weltkarriere begann, wurde in „The Haffkine Institute“ umbenannt. Heute ist es das Zentrum der Corona-Forschung Indiens.
1930 starb Haffkine in Frankreich. 20 Jahre zuvor als „Retter der Menschheit“ gepriesen, druckte lediglich eine lokale jüdische Zeitung einen Nachruf. Da war er bereits vergessen von der Welt.